Unendlichkeit
Der Berg ist von Fichtenschonungen verschont geblieben. Man hatte den Wert der einzigartigen Hochheidelandschaft noch rechtzeitig erkannt und seine 708 Meter hohe Kuppe als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Dieser Weitsicht verdanke ich, dass ich an diesem Nachmittag über einen Feldweg hinaufwandern kann, aus der Talenge hinaus in eine himmelsnahe Weite. Hell und offen wölbt sich der Osterkopf heute über der Upland-Gemeinde Usseln.
Eine rot-weiße Schranke markiert den Beginn des Schutzgebiets. Nachdem ich sie passiert habe, verändert sich das Gefühl beim Gehen. Mir kommt es vor, als liefe ich über einen tiefen, weich federnden Teppich. Moos und Gras polstern den Weg, gesäumt von Heidekraut, das die gesamte Bergkuppe bekleidet. Die grüne Spur führt auf zwei Kiefern zu, die auffallen, weil sie rechts und links wie Wächter stehen und weil sie gerade und hoch gewachsen sind, was hier oben selten ist. Ein ständig und kräftig heranbrausender Westwind zaust die Bäume und Büsche, die sich als Singles in der Heide verstreut haben. Er hält sie niedrig, beugt und biegt und bricht sie. Unter seiner Fuchtel drehen und winden sich die Äste, entstehen Skulpturen, die an abstrakte Kunst erinnern, an urige Typen, manchmal an Fabelwesen. Der Wind als Baumbildner.
Eine Folge des permanenten Wehens ist, dass die durchschnittliche Jahrestemperatur nur sechs Grad Celsius beträgt, ein Wert wie in der skandinavischen Tundra. Der Eindruck nordischer Exotik entsteht auch durch den kargen Bewuchs, die krüppeligen Kiefern und das Vorkommen des Alpenbärlapp, der in Gebieten wächst, die lange schneebedeckt sind – auf dem Osterkopf sind es 100 Tage im Jahr.
Einen Gipfel gibt es eigentlich nicht auf dieser Hochebene, aber einen Punkt, der von einer Wetterfahne statt Gipfelkreuz markiert wird. Sie zeigt den Waldecker Stern, einst das Wahrzeichen der gleichnamigen Grafschaft. Ich kann viel von deren Gebiet überblicken, das heute zu Hessen gehört. Aber die unverstellte 360-Grad-Sicht geht weit darüber hinaus. Mir kommt es vor, als stünde ich am Rande eines Meeres, erhöht wie auf einem Deich, und überschaue eine endlose Wellenlandschaft, die sich blau-in-blau am Horizont verliert. Ich mag diese Weite, weil der Kopf freier und die Gedanken fließender werden. Gleichzeitig denke ich: In dieser Unendlichkeit des Schauens könnte ich mich auch verlieren, mich auflösen, wegfliegen. Mir wird bewusst, dass ich in meinem Leben beides brauche, Flügel UND Wurzeln.
Da passt es wunderbar, dass ich von meinem Aussichtspunkt einen anderen Seelenort auf der anderen Talseite sehen kann, den Steinbruch Hengböhl. Es ist, als kommunizierten die beiden Orte miteinander. Hier das Offene, dort das Abgeschlossene; hier die Weite, dort die Geborgenheit; hier das Luftige, dort das Erdige. Ihre Qualitäten ergänzen sich.
Historiker haben herausgefunden, dass einst bis oben aufs Gipfelplateau Ackerbau betrieben wurde. Seit dem 17. Jahrhundert auch von Amischen und Mennoniten, zwei an urchristlichen Gebräuchen orientierte Glaubensgemeinschaften. Sie waren während der Zeit der Reformation erst aus der Schweiz ins Elsass und von dort ab 1650 ins Waldecker Land geflohen. Sie wurden verfolgt, weil sie die Erwachsenentaufe und Gewaltfreiheit praktizierten. Vor allem aber stellten sie die Autorität der Heiligen Schrift höher als alle kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten. Diese Anarchisten Gottes wurden gehasst und umgebracht von machtbesessenen Fürsten, jedoch geschätzt und umworben von den wenigen toleranten Landesherren, die außerdem um deren Fleiß und bäuerliche Fähigkeiten wussten. Es heißt, dass sie sich auch um den Osterkopf herum ansiedelten und das Upland zum Erblühen brachten.
Als die Waldecksche Herrschaft wieder dogmatischer und es für die Amischen eng wurde, zogen sie erneut weiter. Viele wanderten nach Amerika aus, suchten und fanden dort die Weite, die sie brauchten, um ihren Glauben zu pflegen. Manche blieben aber auch. Ihre Spuren sind bis heute in Usselner Familien- und Hausnamen erhalten.
Autor: Michael Gleich
Der Berg ist von Fichtenschonungen verschont geblieben. Man hatte den Wert der einzigartigen Hochheidelandschaft noch rechtzeitig erkannt und seine 708 Meter hohe Kuppe als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Dieser Weitsicht verdanke ich, dass ich an diesem Nachmittag über einen Feldweg hinaufwandern kann, aus der Talenge hinaus in eine himmelsnahe Weite. Hell und offen wölbt sich der Osterkopf heute über der Upland-Gemeinde Usseln.
Eine rot-weiße Schranke markiert den Beginn des Schutzgebiets. Nachdem ich sie passiert habe, verändert sich das Gefühl beim Gehen. Mir kommt es vor, als liefe ich über einen tiefen, weich federnden Teppich. Moos und Gras polstern den Weg, gesäumt von Heidekraut, das die gesamte Bergkuppe bekleidet. Die grüne Spur führt auf zwei Kiefern zu, die auffallen, weil sie rechts und links wie Wächter stehen und weil sie gerade und hoch gewachsen sind, was hier oben selten ist. Ein ständig und kräftig heranbrausender Westwind zaust die Bäume und Büsche, die sich als Singles in der Heide verstreut haben. Er hält sie niedrig, beugt und biegt und bricht sie. Unter seiner Fuchtel drehen und winden sich die Äste, entstehen Skulpturen, die an abstrakte Kunst erinnern, an urige Typen, manchmal an Fabelwesen. Der Wind als Baumbildner.
Eine Folge des permanenten Wehens ist, dass die durchschnittliche Jahrestemperatur nur sechs Grad Celsius beträgt, ein Wert wie in der skandinavischen Tundra. Der Eindruck nordischer Exotik entsteht auch durch den kargen Bewuchs, die krüppeligen Kiefern und das Vorkommen des Alpenbärlapp, der in Gebieten wächst, die lange schneebedeckt sind – auf dem Osterkopf sind es 100 Tage im Jahr.
Einen Gipfel gibt es eigentlich nicht auf dieser Hochebene, aber einen Punkt, der von einer Wetterfahne statt Gipfelkreuz markiert wird. Sie zeigt den Waldecker Stern, einst das Wahrzeichen der gleichnamigen Grafschaft. Ich kann viel von deren Gebiet überblicken, das heute zu Hessen gehört. Aber die unverstellte 360-Grad-Sicht geht weit darüber hinaus. Mir kommt es vor, als stünde ich am Rande eines Meeres, erhöht wie auf einem Deich, und überschaue eine endlose Wellenlandschaft, die sich blau-in-blau am Horizont verliert. Ich mag diese Weite, weil der Kopf freier und die Gedanken fließender werden. Gleichzeitig denke ich: In dieser Unendlichkeit des Schauens könnte ich mich auch verlieren, mich auflösen, wegfliegen. Mir wird bewusst, dass ich in meinem Leben beides brauche, Flügel UND Wurzeln.
Da passt es wunderbar, dass ich von meinem Aussichtspunkt einen anderen Seelenort auf der anderen Talseite sehen kann, den Steinbruch Hengböhl. Es ist, als kommunizierten die beiden Orte miteinander. Hier das Offene, dort das Abgeschlossene; hier die Weite, dort die Geborgenheit; hier das Luftige, dort das Erdige. Ihre Qualitäten ergänzen sich.
Historiker haben herausgefunden, dass einst bis oben aufs Gipfelplateau Ackerbau betrieben wurde. Seit dem 17. Jahrhundert auch von Amischen und Mennoniten, zwei an urchristlichen Gebräuchen orientierte Glaubensgemeinschaften. Sie waren während der Zeit der Reformation erst aus der Schweiz ins Elsass und von dort ab 1650 ins Waldecker Land geflohen. Sie wurden verfolgt, weil sie die Erwachsenentaufe und Gewaltfreiheit praktizierten. Vor allem aber stellten sie die Autorität der Heiligen Schrift höher als alle kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten. Diese Anarchisten Gottes wurden gehasst und umgebracht von machtbesessenen Fürsten, jedoch geschätzt und umworben von den wenigen toleranten Landesherren, die außerdem um deren Fleiß und bäuerliche Fähigkeiten wussten. Es heißt, dass sie sich auch um den Osterkopf herum ansiedelten und das Upland zum Erblühen brachten.
Als die Waldecksche Herrschaft wieder dogmatischer und es für die Amischen eng wurde, zogen sie erneut weiter. Viele wanderten nach Amerika aus, suchten und fanden dort die Weite, die sie brauchten, um ihren Glauben zu pflegen. Manche blieben aber auch. Ihre Spuren sind bis heute in Usselner Familien- und Hausnamen erhalten.
Autor: Michael Gleich
Gut zu wissen
Eignung
für Individualgäste
Fremdsprachen
Deutsch
Zahlungsmöglichkeiten
Eintritt frei
Anreise & Parken
Mit dem Auto über die B251
ÖPNV: Bus/Bahn bis Bahnhof Willingen, weiter mit Bus oder Anrufsammeltaxi (diverse Haltestellen in allen Ortsteilen)
ÖPNV: Bus/Bahn bis Bahnhof Willingen, weiter mit Bus oder Anrufsammeltaxi (diverse Haltestellen in allen Ortsteilen)
Weitere Infos
Sauerland·Seelenorte – das sind Felsen und Steinbrüche, Kirchen und Bergkuppen, mächtige Bäume und unterirdische Grotten, Seen und Täler. 43 Orte, über die Sauerland-Wanderdörfer verteilt, wurden ausgewählt, weil sie besonders beeindruckend sind und für die Menschen in ihrer Umgebung eine besondere Bedeutung besitzen. Nicht nur heute, sondern auch schon zu früheren Zeiten. Sie berühren die Menschen emotional, geistig und spirituell. Sie rufen starke Resonanzen hervor. Es sind Orte, zu denen die Menschen wandern und wo sie abschalten können. Zu sich kommen. Die Ruhe genießen. Inspiriert werden. Neue Einsichten gewinnen. Auch wenn jeder Seelenort seine eigene Geschichte erzählt, gibt es eine Qualität,die alle verbindet: Lebendige Stille.
Ansprechpartner:in
Tourist-Information Willingen
Am Hagen 10
34508 Willingen (Upland)
Autor:in
Tourist-Information Willingen
Am Hagen 10
34508 Willingen (Upland)
Organisation